Dienstag, 10. Juni 2025

Ein Gott

Dort drüben, ganz hinten im Bücherregal, in einer besonders dunklen Ecke haust zwischen Staub und Spinnweben ein kleiner, unansehnlicher, uralter Gott. Seit langer, langer Zeit haben ihn alle vergessen, aber schon früher, vor einer kleinen Ewigkeit, als manche ihn noch kannten, war es mit seiner Verehrung nicht weit her gewesen. Heutzutage weiß niemand mehr auch nur seinen Namen, und er selbst wohl auch nicht mehr.
   Er ist offenbar ein Überbleibsel aus der Zeit der vielen Götter, an die sich heute niemand mehr erinnert. Längst ist er völllig nutzlos geworden, wenn er denn überhaupt je nützlich war, und er hat nichts tun. Meistens sitzt er einfach ruhig da, auf einem Bücherstapel, und wartet. Auf nichts. Denn es gibt nichts, worauf er warten könnte. Er wartet trotzdem. Was sollte er auch sonst tun? Es gibt nichts, was er tun könnte.
   Vielleicht wäre er gern sterblich und irgendwann endlich gestorben. Aber das ist nicht möglich. Götter sterben nicht. Sie verschwinden allenfalls. Doch dafür hat er wohl den richtigen Zeitpunkt verpasst. Also ist er geblieben. Er lebt und sitzt einfach da. Sinnloserweise.
   Manchmal baumelt er ein bisschen mit den Beinen. Bloß so. Dann lässt er das wieder. Bloß so.
  Er empfindet vermutlich weder Freude noch Leid und auch keinerlei Langeweile. Er sitzt bloß so da und nimmt keinen Anteil an der Welt und den Menschen darin. Früher, vor einer kleinen Ewigkeit, war das bestimmt anders, da interessierte er sich noch für die Menschen und ihre Schicksale. Aber da sich dann niemand je für ihn interessierte, verlor auch er schließlich jegliches Interesse.
   Er schläft nie. Es gäbe auch nichts, wovon er träumen könnte. Eigentlich denkt er auch an nichts, zumindest an nichts Besonderes. Er sitzt nur da.
   Mir tut der kleine, hässlich Gott ein bisschen leid. Gern holte ich ihn aus seiner dunklen, staubigen Ecke hervor und ließe ihn zu Ehren kommen. Aber eigentlich weiß ich nichts mit ihm anzufangen. Und würde er das überhaupt wollen? Außerdem habe ich schon einen Gott, einen großen, herrlichen,  allmächtigen. Was soll ich da mit dem mickrigen? Also lasse ich ihn, wo er ist. Weil er mir leid tut und ich doch nichts machen will, versuche ich, so wenig wie möglich an ihn zu denken. Das ist sicher besser so. Wahrscheinlich werde auch ich ihn irgendwann vergessen haben.

Vogelperspektive

Der Adler war dazu verurteilt worden, die Leber des Prometheus zu fressen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Er hasste das. Erstens musste er dazu jedesmal extra in den Kaukasus fliegen. Und zweitens konnte er schon keine Leber mehr sehen. Er wäre so gerne Vegetarier geworden und hätte sich nur von Körnern ernährt. Aber die Götter erlaubten das nicht. Wie froh war der Vogel darum, als endlich Herkules kam und den Titanen befreite. Nie wieder Leber! Der Adler trug Prometheus nichts nach, der konnte ja nichts dafür, dass der Adler verurteilt worden war, und er besucht ihn darum ab und an in seinem Altersheim. Dann brachte er immer Dinkelkekse mit, von denen sie zum Nachmittagstee ein paar knabberten. Sie hatten einander nicht viel zu sagen und vermieden es, die gemeinsame Zeit im Gebirge zu erwähnen. Aber die Kekse schmeckten ihnen offensichtlich beiden. Das genügte.

Sonntag, 8. Juni 2025

Aus meinem Roman „Romans Erzählungen“ (2022)

Die Sache mit dem Einhorn war nicht leicht zu erklären. Es war einfach plötzlich da. Der Schriftsteller kam eines Tages ins Zimmer, und da saß das Einhorn bereits auf dem Sofa und trank Tee. In dem Augenblick trat übrigens die Frage, wie es mit seinen Hufen überhaupt Teetasse und Untertasse halten und zum Maul führen konnte, ganz hinter der ja doch wohl viel grundsätzlicheren Frage zurück, wie es sein konnte, dass da ein Einhorn auf dem Sofa saß. Auch Einzelheiten wie die, warum es wohl einen rosarot-karierten Schottenrock trug, schienen damals zunächst nicht so wichtig. Allerdings muss zugegeben werden, dass der Schriftsteller all die Fragen, die er dem Einhorn, das ja dann ein guter Freund von ihm wurde, bei ihrer ersten Begegnung nicht gestellt hatte, auch später niemals stellte.
 
Die Menschenfresser und das Einhorn waren Gegensätze, das war dem Schriftsteller klar. Er wusste nur noch nicht, wohin das führen sollte.

Hätte Eusebius van Aken je irgendjemandem von seinem Freund, dem Einhorn, erzählt, davon war er überzeugt, man hätte ihn wohl für verrückt gehalten, und zwar, wie Van Aken selbst als erster zuzugeben bereit gewesen wäre, aus gutem Grund. Die Sache war ja wirklich reichlich seltsam, geradezu bizarr. Also behielt er die Besuche des Einhorns und die Gespräche mit ihm für sich. Allerdings wusste der Schriftsteller, der ja nicht nur das Einhorn bei Eusebius van Aken eingeführt, sondern auch diesen selbst erfunden hatte, selbstverständlich um das Geheimnis dieser Figur, und es war leider nicht auszuschließen, dass er es, sei es mit Absicht oder gleichsam aus Versehen, anderen Figuren des Romans und damit letztlich ja irgendwann auch dem Leser mitteilen würde.

R. erzählt: „Der Fürst Awrakadawrow, Prof. Kierlinger, Prof. Lazaroff, Herr Västergaard und des Fürsten Reisegefährte hatte Sankt Klemens besucht, wo sie auch bis zum Mithräum hinabgestiegen waren, und befanden sich nun auf dem Weg in Richtung der Ruine des Amphitheaters der Flavier, als ihnen in der Straße von Sankt Johann im Lateran das Einhorn entgegenkam. Man grüßte einander höflich, doch das Einhorn schien so offensichtlich in Eile, dass niemand stehen blieb, um auch nur ein paar Worte zu wechseln.

Die kleine Gesellschaft, die außer aus Dr. Scarabelli und mir aus den Herren Van Aken, Hokuspokuschenko, Kierlinger, Lazaroff, Simsalabinski und Zobelfeld, weiters aus der Tornidegan, der Zschochwitz und der Lammberg bestand, hatte hatten gerade den Petersdom verlassen, als wir von irgendwoher ein schweres Dröhnen vernahmen. Wir schauten von den Stufen der Basilika hinunter über den Platz hinweg und sahen zu unserem äußersten Entsetzen, dass eine riesige schwarze Spinne die Straße der Versöhnung heraufkroch. „Arnoldus!“, rief Dr. Scarabelli aus und bekreuzigte sich. Mir war aus sofort klar, dass es jetzt zum letzten Kampf mit den Untier kommen musste. „Gott steh uns bei“, stöhnte Lazaroff. Hokuspokuschenko und Simsalibinski waren beide kreidebleich. Die Frauen fielen auf die Knie und begannen, den Rosenkranz zu beten. „Ein Pferd“, flüsterte Van Aken. „Er braucht ein Pferd.“ Auch er fing an zu beten. „Woher nehmen und nicht stehlen?“, warf Zobelfeld ein. „Was jetzt nottut, ist ein Wunder!“ Angstschreie gellten, als die Pilger auf dem Platz gewahr wurden, was auf sie zukam. Und da, mit einem Mal, ertönte es wie Harfenklang und Engelsgesang, und aus der Luft schwebte, eindrucksvoll mit den Flügeln schlagend, die es jetzt erstaunlicherweise hatte, das Einhorn herab, Van Akens Freund. „Das Einhorn als Pegasus“, bemerkte ich unpassenderweise. Wir alle staunten nicht schlecht, die auf dem Platz versammelte Pilgerschar ließ unrihiges Gemurmel hören. Dr. Scarabelli aber schwang sich sogleich auf den Rücken des Einhorns, dann zog er den Degen aus dem Schaft seines Spazierstocks, warf mir die leere Hülle zu und schleuderte die Waffe hoch in die Luft, die, als sie wieder herunterfiel, um ein Vielfaches länger und schwerer war und von Dr. Scarabelli wie eine Lanze eingelegt wurde. Das Einhorn schlug gewaltig mit den Flügeln, und Ross und Reiter erhoben sich in die Lüfte, flogen über den Petersplatzes, am Obelisken vorbei und auf Meister Arnold zu, der unterdessen auf der Höhe des Pressezentrums des Heiligen Stuhles angehalten hatte. Dort bäumte das Ungeheuer sich auf und fauchte, zischte und spuckte Feuer, als bräche aus ihm die Hölle hervor. Die Menge brüllte vor Angst. Der reitende Retter aber war schon zur Stelle, und ohne zu zögern rammte Dr. Scarabelli dem riesigen Ungeziefer die gewaltige Lanze in den widerwärtigen Leib. Ein letzter, schier unerträglicher Schrei, das Ungeheuer sackte in sich zusammen und krepierte. Da tat die Erde sich auf und die Unterwelt verschlang den Bösewicht für alle Zeiten. Während jetzt das Einhorn mit Dr. Scarabelli zurück zum Petersdom flog, jubelten alle, auch ich, wir dankten und priesen Gott. Als das Einhorn wieder festen Boden unter den Hufen hatte, warf der Doktor die Lanze hoch in die Luft und sie kehrte in der gewöhnlichen Gestalt seines Spazierstockdegens zu ihm zurück. Ich reichte ihm den Schaft und er versorgte die Klinge. Nun stieg Dr, Scarabelli ab, ordnete seine Kleidung und sagte lächelnd zu mir: „Dieses Abenteuer immerhin ist zu Ende.“ Das Einhorn aber faltete seine Flügel zusammen, als wären sie ein Regenschirm ― vielleicht waren sie auch einer, wer weiß ―, und gesellte sich verlegen grinsend zu uns anderen. Die Herren klopften ihm anerkennend auf den Rücken, während die Damen es bewundernd anlächelten.

Aus meinen „Literarische Notizen“ (unveröffentlicht)

Als ich das Zimmer betrat, saß dort ein Einhorn auf dem Sofa und trank Tee. Es saß aufrecht da, die Hinterbeine elegant übereinandergeschlagen, hielt mit dem linken Vorderhuf eine Untertasse und führte mit dem rechten die Teetasse zum Maul. Mich wunderte, dass es mich mehr wunderte, dass ein Einhorn Tasse und Untertasse mit seinen Hufen halten konnte, als dass es ein Einhorn war.
    „Ah“, sagte das Einhorn, stellte die Tasse auf die Untertasse und beides vor sich auf den Teetisch. „Da sind Sie ja.“ Das Einhorn stand auf, und erst jetzt bemerkte ich, dass es einen Schottenrock trug.
(29. VI. 2017) 

Montag, 2. Juni 2025

Die hier

Eigentlich sollten sie hier sein. Aber man sagt, sie hätten hier nichts zu suchen, weil sie hier nichts verloren hätten. Als hätte je einer bestritten, dass der Verlust anderswo stattfand. Nun geschieht er auch hier. Sie fehlen. Manche freilich haben es trotzdem fürs Erste geschafft. Man wird sehen, wohin das führt. Dass sie nicht aufgegeben haben, beweist leider gar nichts. Im Gegenteil, der Vorwurf lautet auf Aufdringlichkeit. Man speist sie ab mit Vorschriften. Sie kommen nicht zu Wort. Das scheint auch nicht nötig zu sein. Es ist schon alles gesagt, darf man annehmen. Keine Widerrede, keine Ausflucht, keine Wünsche. Nur Schuldigkeit. Nachweise sollen zu erbringen sein, die damit gar nichts zu tun haben. Gesetze widerrufen das Recht nach Belieben. Falsche Grenzen bilden den Maßstab. Der will verteidigt werden gegen alle weiteren. Aber es hilft nichts. Sie sind unterwegs. Sie sind schon da. Wer angeblich nicht hierher gehört, ist offensichtlich dringend von Nöten.