Sonntag, 8. Juni 2025

Aus meinem Roman „Romans Erzählungen“ (2022)

Die Sache mit dem Einhorn war nicht leicht zu erklären. Es war einfach plötzlich da. Der Schriftsteller kam eines Tages ins Zimmer, und da saß das Einhorn bereits auf dem Sofa und trank Tee. In dem Augenblick trat übrigens die Frage, wie es mit seinen Hufen überhaupt Teetasse und Untertasse halten und zum Maul führen konnte, ganz hinter der ja doch wohl viel grundsätzlicheren Frage zurück, wie es sein konnte, dass da ein Einhorn auf dem Sofa saß. Auch Einzelheiten wie die, warum es wohl einen rosarot-karierten Schottenrock trug, schienen damals zunächst nicht so wichtig. Allerdings muss zugegeben werden, dass der Schriftsteller all die Fragen, die er dem Einhorn, das ja dann ein guter Freund von ihm wurde, bei ihrer ersten Begegnung nicht gestellt hatte, auch später niemals stellte.
 
Die Menschenfresser und das Einhorn waren Gegensätze, das war dem Schriftsteller klar. Er wusste nur noch nicht, wohin das führen sollte.

Hätte Eusebius van Aken je irgendjemandem von seinem Freund, dem Einhorn, erzählt, davon war er überzeugt, man hätte ihn wohl für verrückt gehalten, und zwar, wie Van Aken selbst als erster zuzugeben bereit gewesen wäre, aus gutem Grund. Die Sache war ja wirklich reichlich seltsam, geradezu bizarr. Also behielt er die Besuche des Einhorns und die Gespräche mit ihm für sich. Allerdings wusste der Schriftsteller, der ja nicht nur das Einhorn bei Eusebius van Aken eingeführt, sondern auch diesen selbst erfunden hatte, selbstverständlich um das Geheimnis dieser Figur, und es war leider nicht auszuschließen, dass er es, sei es mit Absicht oder gleichsam aus Versehen, anderen Figuren des Romans und damit letztlich ja irgendwann auch dem Leser mitteilen würde.

R. erzählt: „Der Fürst Awrakadawrow, Prof. Kierlinger, Prof. Lazaroff, Herr Västergaard und des Fürsten Reisegefährte hatte Sankt Klemens besucht, wo sie auch bis zum Mithräum hinabgestiegen waren, und befanden sich nun auf dem Weg in Richtung der Ruine des Amphitheaters der Flavier, als ihnen in der Straße von Sankt Johann im Lateran das Einhorn entgegenkam. Man grüßte einander höflich, doch das Einhorn schien so offensichtlich in Eile, dass niemand stehen blieb, um auch nur ein paar Worte zu wechseln.

Die kleine Gesellschaft, die außer aus Dr. Scarabelli und mir aus den Herren Van Aken, Hokuspokuschenko, Kierlinger, Lazaroff, Simsalabinski und Zobelfeld, weiters aus der Tornidegan, der Zschochwitz und der Lammberg bestand, hatte hatten gerade den Petersdom verlassen, als wir von irgendwoher ein schweres Dröhnen vernahmen. Wir schauten von den Stufen der Basilika hinunter über den Platz hinweg und sahen zu unserem äußersten Entsetzen, dass eine riesige schwarze Spinne die Straße der Versöhnung heraufkroch. „Arnoldus!“, rief Dr. Scarabelli aus und bekreuzigte sich. Mir war aus sofort klar, dass es jetzt zum letzten Kampf mit den Untier kommen musste. „Gott steh uns bei“, stöhnte Lazaroff. Hokuspokuschenko und Simsalibinski waren beide kreidebleich. Die Frauen fielen auf die Knie und begannen, den Rosenkranz zu beten. „Ein Pferd“, flüsterte Van Aken. „Er braucht ein Pferd.“ Auch er fing an zu beten. „Woher nehmen und nicht stehlen?“, warf Zobelfeld ein. „Was jetzt nottut, ist ein Wunder!“ Angstschreie gellten, als die Pilger auf dem Platz gewahr wurden, was auf sie zukam. Und da, mit einem Mal, ertönte es wie Harfenklang und Engelsgesang, und aus der Luft schwebte, eindrucksvoll mit den Flügeln schlagend, die es jetzt erstaunlicherweise hatte, das Einhorn herab, Van Akens Freund. „Das Einhorn als Pegasus“, bemerkte ich unpassenderweise. Wir alle staunten nicht schlecht, die auf dem Platz versammelte Pilgerschar ließ unrihiges Gemurmel hören. Dr. Scarabelli aber schwang sich sogleich auf den Rücken des Einhorns, dann zog er den Degen aus dem Schaft seines Spazierstocks, warf mir die leere Hülle zu und schleuderte die Waffe hoch in die Luft, die, als sie wieder herunterfiel, um ein Vielfaches länger und schwerer war und von Dr. Scarabelli wie eine Lanze eingelegt wurde. Das Einhorn schlug gewaltig mit den Flügeln, und Ross und Reiter erhoben sich in die Lüfte, flogen über den Petersplatzes, am Obelisken vorbei und auf Meister Arnold zu, der unterdessen auf der Höhe des Pressezentrums des Heiligen Stuhles angehalten hatte. Dort bäumte das Ungeheuer sich auf und fauchte, zischte und spuckte Feuer, als bräche aus ihm die Hölle hervor. Die Menge brüllte vor Angst. Der reitende Retter aber war schon zur Stelle, und ohne zu zögern rammte Dr. Scarabelli dem riesigen Ungeziefer die gewaltige Lanze in den widerwärtigen Leib. Ein letzter, schier unerträglicher Schrei, das Ungeheuer sackte in sich zusammen und krepierte. Da tat die Erde sich auf und die Unterwelt verschlang den Bösewicht für alle Zeiten. Während jetzt das Einhorn mit Dr. Scarabelli zurück zum Petersdom flog, jubelten alle, auch ich, wir dankten und priesen Gott. Als das Einhorn wieder festen Boden unter den Hufen hatte, warf der Doktor die Lanze hoch in die Luft und sie kehrte in der gewöhnlichen Gestalt seines Spazierstockdegens zu ihm zurück. Ich reichte ihm den Schaft und er versorgte die Klinge. Nun stieg Dr, Scarabelli ab, ordnete seine Kleidung und sagte lächelnd zu mir: „Dieses Abenteuer immerhin ist zu Ende.“ Das Einhorn aber faltete seine Flügel zusammen, als wären sie ein Regenschirm ― vielleicht waren sie auch einer, wer weiß ―, und gesellte sich verlegen grinsend zu uns anderen. Die Herren klopften ihm anerkennend auf den Rücken, während die Damen es bewundernd anlächelten.

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