Donnerstag, 20. November 2025

Blumfeld (19)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, bemerkte erst mitten in der Trauerfeier durch die rühmenden Reden, die gehalten wurden, dass er hier falsch war. Diesen Toten dort im Sarg hatte er überhaupt nicht gekannt! Wie hatte das geschehen können? Wahrscheinlich hatte er den Friedhof verwechselt. Wie peinlich. Er hatte also den falschen Angehörigen vorsichtig die Hände geschüttelt und flüsternd kondoliert. Das heißt, die Angehörigen waren die richtigen, er war hier falsch. Aber gehen konnte er jetzt auch nicht. Wie hätte das denn ausgesehen! Er musste also warten, bis alle Reden vorüber waren, wahrscheinlich wurde dann noch einmal Musik gespielt, und erst wenn man aufbrach, um die Urne draußen im Gräberfeld beizusetzen, konnte er sich in entgegengesetzter Richtung davonmachen, möglichst unauffällig und doch sicherheitshalber gesenkten Hauptes und wie von Trauer überwältigt.

Ein Dichter

Aalfried zur Reuse hielt sich bei den Jagden immer abseits, derlei schien ihm zu roh und abgeschmackt zugleich. Doch auch er streifte durch Wald und Wiese. Fernab der Menschen und ihres Lärmes und ihrer Gewalt notiert er dann zuweilen Verse: In Spinnweben glitzert’s. / Der Nebel zieht weiter. / Was weiß das Wild, / was du nicht weißt? Mit derlei war dann, fand Aalfried zur Reuse, sein Tagwerk getan, und er kehrte zu den Menschen zurück, die aßen und tranken und lachten und nicht wussten, was das Wild wohl wusste. Und er, mitten unter ihnen, lächelte und lachte auch.

Dienstag, 11. November 2025

Blumfeld (18)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, saß im Park am Teich auf einer Bank und betrachtete das Phänomen von allen Seiten und im Hinblick auf alle Abschattungen „Was das wohl sein mag?“, überlegte Blumfeld. „Es sieht aus wie eine Ente. Es watschelt wie eine Ente. Es quakt wie eine Ente.“ Blumfeld schloss messerscharf: „Also ist es sehr wahrscheinlich ein Elefant!“

Montag, 3. November 2025

Miniaturen (4)

Er war mittelmäßig in jeder Hinsicht und fand das ganz normal.
 
Ganz normal war er freilich nicht, denn hatte wenig, fast nichts von dem erreicht, was man vorweisen musste, um wirklich als normal gelten zu können.

Er hatte eine Abneigung gegen alles Großspurige, Übertriebene, Wichtigtuerische. Derlei hätte ihn, wenn er sich dem nicht mit überlegener Abwehrgebärde entzogen hätte, an sein eigenes Ungenügen und Versagen erinnert.

Seine Devise hätte sein können: „Nichts im Übermaß“, wenn er zu Übermäßigem überhaupt noch fähig gewesen wäre.

Gewiss, er hatte einige Unarten und mickrige Laster, aber die fielen kaum auf. Ihm am wenigsten, und wenn doch, dann zuckte er mit den Schultern und entschuldigte sich selbst damit, er sei eben so.

Zuweilen war er knapp an einer Psychose vorbeigeschrammt, hatte sich auch einmal selbst in die Irrenanstalt eingewiesen, nahm ständig einschlägige Pillen und unterzog sich Therapien, von deren Nutzlosigkeit der im Voraus überzeugt war. Und die ihm auch tatsächlich nichts brachten.

Sein Glück, wenn man es denn so nennen will, war, dass er ebenso wenig Gründe für einen Selbstmord anzugeben wusste wie fürs Weiterleben. Er wählte das, was weniger prätentiös war.
 
Er war durchaus gebildet. Er mochte Musik und las. Er verwarf aber alles, was ihn herausforderte. Er wollte es einfach, gemütlich, ablenkend haben.

Als eine besondere Zumutung empfand er es, wenn er von irgendwem zu irgendetwas „Kulturellem“ eingeladen oder aufgefordert wurde, wozu er keine Lust hatte, wegen der möglichen Herausforderung, und wozu er auch auf keinen Fall Meinung haben müssen wollte. Besonders zuwider war es ihm, wenn Freunde oder Bekannte selbst etwas produziert hatten. Warum machten die Leute dies und das, sangen, tanzten, komponierten Streichquartette und Opern, schrieben Theaterstücke, Gedichtbände, Romane, malten Bilder, bearbeiteten Marmor, gossen Bronze, formten aus Ton? Warum ließen sie nicht alles, wie es war?

Blumfeld (17)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, ging spazieren, irgendwo etwas außerhalb Stadt. Er wollte den goldenen Herbst genießen, die Farbenpracht der Blätter, die würzig-modrige Luft und die Kühle trotz Sonnenscheins. Schließlich kam er auch an einem Acker vorüber, auf dem Krähen lagerten und sich gerade lautstark unterhielt. Blumfeld blieb stehen, hörte eine Weile aufmerksam zu, verstand aber kein Wort. Dann ging er weiter. „Ich weiß gar nicht“, fing er an zu überlegen, „ob eigentlich alle Krähen so eines Pulkes, oder musste es Schwarm heißen?, ob also alle Krähen, die sich auf einem Felde versammeln, miteinander verwandt sind. Oder wie finden sie zusammen? Kann sich eine neue Krähe bewerben, prüft ein Komitee, entscheidet ein Plenum? Was sind die Aufnahmekriterien? Muss man Befähigungen nachweisen? Geht es um Sympathien und Antipathien? Finden Bestechungen statt und welche? Von wem muss man abstammen, woher muss man kommen?“ Denn diese Krähen, dachte Blumfeld, seien ja wohl Zugvögel, freilich keine aus dem Norden, die in den Süden wollten oder mussten, sondern Flüchtlinge vor der noch größeren Kälte und Nahrungsnot weiter, vielleicht sehr viel weiter im Osten. „Aber auch wenn es hiesige wären, verstände ich sie nicht“, sagte sich Blumfeld. „Aber was verstehe ich schon? Wenn ich es recht bedenke, weiß ich fast gar nichts über Krähen. Gehören zu so einem Pulk oder Schwarm oder Clan Alte und Junge, Männchen und Weibchen? Gibt es getrennte Äcker? Wie heißt überhaupt eine männliche Krähe? Ein Kräh? Ein Kräherich?“ Blumfeld schmunzelte. Als Kind, fiel ihm ein, habe er gemeint, ein Rabe sei eine männliche Krähe. Seltsam. Wann habe er eigentlich aufgehört, das zu meinen? Was habe er stattdessen gemeint? Was meine er heute? „Heute weiß ich“, sagte Blumfeld laut zu sich selbst, „dass ich es nicht weiß. Das ist leider auch schon etwas.