Blumfeld, ein älterer Junggeselle, kannte niemanden und niemand kannte ihn. In dieser ganzen Stadt, in der er seit jeher lebte, war er völlig unbekannt. Manchmal hatte er das Gefühl, die Leute auf der Straße sähen ihn an, als würden sie ihn erkennen, aber dann meinte er zu verstehen, dass sie ihn wohl deshalb so merkwürdig ansahen, gerade weil er ihnen so ganz und gar unbekannt war und er auch niemandem, den sie kannten und je gekannt hatten, auch nur im Geringsten ähnlich sah. Aber Blumfeld musste zugeben, dass die meisten Leute ihn gar nicht beachteten. Wie oft wurde er auf der Straße offensichtlich ohne Absicht angerempelt, er war einfach übersehen worden, doch wenn die Passanten sich umdrehten, übersahen sie Blumfeld noch einmal, entschuldigten sich daru nie und gingen wieder ihrer Wege. Er war eben einer, den man sich nicht merkte. Selbst die Kellner in dem Kaffeehaus, das Blumfeld seit vielen jahrem mehrmals in der Woche aufsuchte, schienen sich seiner nie zu erinnern. Nie fragten sie: „Das Übliche, mein Herr?“ Geschweige denn, dass sie seinen Namengewusst hätten. Oft vergaßen sie sogar, ihm das vorhin erst Bestellte zu bringen oder brachten das Falsche. Darjeeling-Tee statt Assam-Tee oder umgekehrt, Apfelstrudel statt Topfenstrudel, Dobos-Torte statt Esterházy-Schnitte, Schinkenrolle statt Butterkipferl. Wenn Blumfeld Einwände erhob, ließen sie erkennen, dass ganz sicher nicht sie sich geirrt hatten, sondern er ein schwieriger Gast war, der hoffentlich nicht wiederkommen wolle. Also hatte Blumfeld sich angewöhnt, das zu verzehren, was man ihm brachte. Hinterher lobte er immer und gab gutes Trinkeld. Aber auch das nutzte ihm selbstverständlich nichts. Beim nächsten Mal war er wieder ein völlig Unbekannter. Auch Blumfelds Zugehfrau wirkte immer erstaunt, wenn sie ihn in seiner Wohnung antraf, wenn sie einmal in der Woche, immer samstags, zum Putzen, Wäschewaschen und Bügeln kam. „Ach, Sie sind das. Nun, so lernen wir einander endlich einmal kennen. Ich bin Frau Nechvatal, aber das haben sie ja gewiss schon erraten. Ich habe schon bei dem Herrn geputzt, der bis vor Kurzem vor Ihnen hier gewohnt hat.“ So sehr ihn solches Gerede ärgerte, Blumfeld hatte sich fast schon damit abgefunden. Nicht so mit der Einsamkeit. Er hatte nämlich keine Freunde oder wenigstens guten Bekannten. Aber er hätte, das musste er zugeben, sehr gerne welche gehabt. Warum auch immer. Nur so. Früher habe er Freunde gehabt, war Blumfeld überzeugt, aber irgendwie waren sie ihm anscheinend alle nach und nach abhanden gekommen. Das musste schon eine Weile her sein, denn so genau konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum er jetzt keine Freunde mehr hatte. Ein paar hatten sich umgebracht, das wusste er noch. Da konnte man nichts machen, die fielen aus. Andere hatten sich vermählt und waren sehr häuslich geworden. Deren Pech. Wieder andere hatten wohl von einem Tag auf den anderen den Verkehr mit Blumfeld eingestellt, ohne dass zuvor irgendetwas vorgefallen wäre, was es erklärt hätte, zumindest nichts, wovon Blumfeld etwas gewusst hätte. Mit einigen hatte er sich zerstritten, dass meinte Blumfeld noch zu wissen, auch wenn er ganz und gar nicht mehr wusste, worum es dabei gegangen sein könnte und wer den Streit begonnen hatte und sich hätte entschuldigen müssen. Vielleicht er, vielleicht auch nicht. So oder so, weg war weg. Er war allein. Mutterseelenallein, wie man so sagt, sagte sich Blumfeld. Im Grunde blieb ihm also nur noch sein Arbeitsplatz und seine dortige Kollegen. Und da trat nun eine besonders unangenehme Schwierigkeit auf, denn Blumfeld konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wo er gearbeitet hatte, und nicht einmal daran, worin seine Arbneit bestanden hatte. Die Gesichter und erst Recht die Namen der Kollegen waren ihm bedauerlicherweise völlig entfallen. Er rätselte oft, wie die Firma oder die Behörde geheißen hatte, bei der er jahrelang sein Geld verdient hatte. Blumfeld hatte sogar erwogen, das ganze Telephonbuch von vorn bis hinten durchzulesen, er dachte nämlich, wenn er den Firmennamen oder die Bezeichnung der Behörde läse, kämen die Erinnerungen vielleicht zurück. Das scheiterte aber daran, dass er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie diese Stadt hieß, in der er anscheinend wohnte. Welches Telephonbuch hätte er also lesen sollen? Jedes, das es im Hauptpostamt gab? Er blätterte also stattdessen manchmal in einem alten Adressbuch seines Großvaters, aber das war in Gabelsbergerscher Kurzschrift verfasst, und die konnte Blumfeld nicht lesen. Aber er blieb gelassen. Wenn es wichtig war, werde es ihm schon wieder einfallen, sagte er sich. Was immer es denn war, woran er sich nicht erinnerte. Auch das hatte er nämlich vergessen. Nun, beschloss Blumfeld, dann werde ich eben meinen guten Freund Gabelsberger danach fragen, der weiß das bestimmt. Wusste der nicht auch immer, was ich im Kaffeehaus zu bestellen pflegte? Die Frage ist nur, ob er mich nach all der langen Zeit überhaupt wiedererkennen wird, der Dingsbums. Und wie heißt das Café, wo ich ihn treffen soll? Na, wenn es ihm gehört, wird es ja wohl nach ihm heißen. Café Nechvatal also. Dort muss ich hin. Dort fällt mir dann auch bestimmt wieder ein, warum.
Freitag, 22. August 2025
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