Blumfeld, ein älterer Junggeselle, schaute lieber noch einmal nach. Auch dort, wo er längst schon nachgeschaut hatte. Er hätte ja etwas übersehen haben können. Aber er fand nichts. Das ärgerte ihn. Er war sich sicher, dass er den Sinn des Lebens hier irgendwo gehabt hatte. Selbstverständlich hatte er ihn gehabt, was denn sonst, aber gerade jetzt, da er ihn aus irgendeinem Gund gern zur Hand gehabt hätte, war er nirgendwo zu finden. Blumfeld hatte schon alles durchsucht. Mehrfach. Zuerst aufs Geratewohl, dann systematisch. Nichts. Er konnte ihn aber doch nicht verloren haben. Und weggeworfen hatte er ihn ganz bestimmt nicht. Warum hätte er das tun sollen? Ob seine Zugehfrau … ? Aber der war streng verboten, etwas anderes als offensichtlichen Abfall zu entsorgen, auf gar keinen Fall hätte sie es also gewagt … Blumfeld überlegte, ob er ihn vielleicht irgendwann an irgendwen verliehen hatte? Aber auch das war unwahrscheinlich. Seit Jahren, nach sehr schlechten Erfahrungen mit Büchern, die er nie zurückbekommen hatte, verlieh Blumfeld überhaupt nichts mehr, was ihm wichtig war, allenfalls ein bisschen Geld oder eine Tasse Mehl an irgendwelche Nachbarn. Blumfeld war außer sich. Dass er den Sinn des Lebens nicht und nicht fand, ärgerte ihn maßlos. Leider konnte er sich überhaupt nicht erinnern, wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Aber irgendwo musste er doch sein! Es war zum Verrücktwerden. Blumfeld setzte sich immer wieder hin, wartete, überlegte, sprang dann auf, suchte an der einen oder anderen Stelle, fand nichts, zumindest nicht das Gesuchte, wenn auch manch anderes, das er noch gar nicht vermisst hatte. Dann setzte er sich erschöpft und wütend wieder hin. Es war sinnlos. Er fand diesen gottverdammten Sinn einfach nicht. Darüber platzte er fast vor Ärger. Über sich selbst. Über die Welt. Über die Unordnung darin. Über den Mangel an Sinn. Warum war alles so, wie es war, und warum so fürchterlich? Das ging lange Zeit so weiter. Schließlich drängte sich Blumfeld ― wie er fand, schon am Rande des Wahnsinns ― doch der Gedanke auf, dass er den Sinn des Lebens niemals besessen hatte. Sondern sich immer nur eingeredet hatte, ihn zu besitzen. Dieser Gedanke, der ungeheuerlich, aber angesichts des Versagens aller Suchbemühungen auf geradezu heimtückische Weise fast unabweisbar war, machte Blumfeld erst recht rasend. Er griff nach Hut, Mantel und Spazierstock, stürmte aus der Wohnung, das Treppenhaus hinunter und hinaus auf die Gasse. Er musste jetzt dringend ins Kaffeehaus und dort mit irgendwem über den Sinn des Lebens diskutieren. Wehe, wenn er keinen fand!
Mittwoch, 22. Oktober 2025
Dienstag, 21. Oktober 2025
Hafenszene
Einige Möwen diskutieren sehr engagiert Verteilungsfragen bezüglich des herumliegenden Fischabfalls. Andere spekulieren schon auf die frischen Fritten unachtsamer Touristen. Und eine einzelne Möwe, etwas abseits, könnte sich vielleicht für eine herumliegende Plastiktüte interessieren, geht auch wie beiläufig darauf zu, kehrt aber rasch um, wenn Leute vorübergehen, dieses Ding da interessiert sie gar nicht, nein, sie doch nicht, dann aber geht sie wieder Richtung Tüte und kehrt, wenn sie sich beobachtet fühlt, wieder rasch um. Hin und her. Schließlich kann sich das Tier doch noch ungestört des Objekts seines Begehrens bemächtigen, muss aber feststellen, dass die Tüte, die so vielversprechend ausgesehen hatte, leer ist. Vom Leben enttäuscht fliegt die Möwe davon.
Montag, 20. Oktober 2025
Miniaturen (3)
Er sprach zu seinem großen Bedauern nur selten mit solchen, die etwas Belangvolles zu sagen hatten, von denen man Neues und Richtiges erfuhr, mit denen man Gedanken austauschen konnte zu bedeutsamen Themen, von denen man lernen und denen man etwas mitteilen konnte. Die Leute, mit denen er es stattdessen Umgang zu haben pflegte, redeten zwar mehr oder minder viel, aber meistens nichts, das anzuhören sich lohnte. Er fand sich wegen dieser Einschätzung nicht überheblich, sondern anspruchsvoll. Er verspürte eben ein Bedürfnis nach echten Gesprächen mit Leuten, die auf ihre Weise gebildet waren und sich auf etwas verstanden, die Fakten kannten und bewerten konnten, die nachdachten, die kritisch waren, deren Urteile wohlbegründet waren, die nicht bloß irgendetwas nachplapperten, was sie irgendwo gehört zu haben meinten. Solche Leute waren selten. Jedenfalls kannte er fast keine. Darum blieb er viel für sich. Er gab zu, was er selbst im Alltag so sagte, war auch oft belanglos. Er hatte nichts gegen ein Schwätzchen ab und zu, gegen einen freundlichen Spruch, ein gut gesetztes Witzwort, es freute ihn, wenn er jemanden zum Schmunzeln, zum Lächeln, gar zum Lachen brachte. Das machte den Umgang erträglicher. Aber daraus lernte er nichts, das brachte ihn nicht weiter, davon wurde er kein besserer Mensch. Er hätte stattdessen gern auch zum Nachdenken gebracht. Hätte gern Fragen gestellt und Antworten bekommen, die Wesentliches betrafen. Damit blieb er allein. Er bedauerte das. Er konnte es nicht ändern. Was hätte er sagen sollen?
Er war sicher, dass man ihn merkwürdig fand. Er fand sich selbst merkwürdig.
Weil er niemanden hatte, mit dem er über das, was er tat und noch tun wollte, reden konnte, verlor er das Gefühl dafür, ob das, was er tat und tun wollte, Bedeutung hatte und welche. Ihm fehlte die Berichtigung und Verbesserung der Gedanken durch Gedankenaustausch. Er war auf sich allein gestellt, und musste wichtige Gespräche mit sich selbst führen, die er besser mit anderen geführt hätte. Er war nicht unkritisch sich selbst gegenüber, das war nie sein Problem gewesen, aber er hatte es so schrecklich satt, immer alles selbst machen zu müssen, hätte es vorgezogen, wenn ihm wenigstens ab und zu jemand bei der Beurteilung und Bewertung dessen, was er tat und tun wollte, zur Hand gegangen wäre. Gegen die Kritik anderer konnte er sich wehren oder sie annehmen oder erst das eine, dann nach und nach das andere. Gegen seine eigene Kritik hingegen war er wehrlos. Sie konnte ihn vernichten.
Er war sicher, dass man ihn merkwürdig fand. Er fand sich selbst merkwürdig.
Weil er niemanden hatte, mit dem er über das, was er tat und noch tun wollte, reden konnte, verlor er das Gefühl dafür, ob das, was er tat und tun wollte, Bedeutung hatte und welche. Ihm fehlte die Berichtigung und Verbesserung der Gedanken durch Gedankenaustausch. Er war auf sich allein gestellt, und musste wichtige Gespräche mit sich selbst führen, die er besser mit anderen geführt hätte. Er war nicht unkritisch sich selbst gegenüber, das war nie sein Problem gewesen, aber er hatte es so schrecklich satt, immer alles selbst machen zu müssen, hätte es vorgezogen, wenn ihm wenigstens ab und zu jemand bei der Beurteilung und Bewertung dessen, was er tat und tun wollte, zur Hand gegangen wäre. Gegen die Kritik anderer konnte er sich wehren oder sie annehmen oder erst das eine, dann nach und nach das andere. Gegen seine eigene Kritik hingegen war er wehrlos. Sie konnte ihn vernichten.
Dienstag, 14. Oktober 2025
Versuch eines „langen“ Satzes
Zur nämlichen Stunde an anderem Ort beschloss einer, der bisher dies und das getan hatte, fortan etwas anderes zu tun, zumal das, was er bisher getan habe, wie er sich sagte, nicht das gewesen sei, was er eigentlich habe tun wollen, während das, was er habe tun wollen, durch die Verhältnisse, in denen er sich befinde, bisher verhindert worden sei oder doch zumindest stark eingeschränkt und behindert, und obwohl er durchaus zugab, dass die Verhältnisse immer noch dieselben waren, war er fest entschlossen, sich von nun an von ihnen in seinem Tun und Lassen nicht mehr bestimmen zu lassen, also weder sich zu dem nötigen zu lassen, was er nicht tun wollte, noch sich von dem abhalten zu lassen, was er eigentlich tun wollte, denn er war doch immerhin, wie er sich sagte, ein innerlich freier Mensch, einer, der sich von den Verhältnis zumindest in Gedanken frei machen konnte, und es lag somit, wie er nun zu erkennen meinte, keineswegs nur an den Verhältnissen, ob er tat, was er tat, und nicht tat, was er nicht tat, sondern eben auch und vor allem an ihm selbst, sozusagen an seinem Verhältnis zu den Verhältnissen, also daran, ob er sich ihnen fügte oder sich gegen sie zur Wehr setzte, und das, obwohl selbstverständlich, wie er durchaus einsah, die äußeren Verhältnisse, ob sie nun widrig oder förderlich waren, auf ihn zurückwirkten, darauf, wie er sich wahrnahm und fühlte, was er sich zutraute oder nicht und nicht zuletzt auch auf das, was er wollte oder nicht, sodass seine innere Freiheit, von der er so überzeugt war, vielleicht doch nichts anderes war als eine Art von Reaktion auf äußere Bedingungen und Einflüsse, und er überlegte sogar, ob diese Freiheit, die er sich zuschrieb, nämlich die Freiheit dies zu wollen und jenes nicht, währen die Verhältnisse ihm etwas anderes vorzuschreiben schienen, ob diese Freiheit also vielleicht nichts anderes sei als eine Art von Widerwillen gegen Fremdbestimmung, ein Trotz sozusagen, und somit durchaus abhängig von den Verhältnissen, gegen die dieser Trotz sich richtete, aber diese Abhängigkeit, sagte er sich, sei doch im Grunde nichts anderes als das unabweisbare Angewiesensein auf die Wirklichkeit selbst, weil man ja offensichtlich dem, was sei, wie es sei, nie entkomme, es sei denn man verändere es, um es aber verändern zu können, müsse man es als das nehmen, was es sei und wie es sei, sonst habe man es zweifellos nicht mit der Wirklichkeit zu tun, sondern mit bloßer Einbildung, weshalb er also, wenn er frei sein wolle, und das wolle er unbedingt, sich eingestehen müsse, dass er unfrei sei, was ihm aber bereits eine gewisse Freiheit verschaffe oder zumindest ein bestimmtes Verhältnis dazu, denn wer wisse, dass er unfrei sei, wisse auch oder ahne es zumindest, dass es Freiheit geben müsse, wenn schon nicht als Wirklichkeit, dann immerhin als Möglichkeit, und diese Möglichkeit zu verwirklichen nahm er sich vor, nicht obwohl, sondern gerade weil die Verhältnisse dagegen waren, denn da sie es nun einmal waren, davon war er überzeugt, mussten sie geändert werden.
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Blumfeld, ein älterer Junggeselle, hatte schon lange mit dem Anarchismus geliebäugelt und eines Tages beschloss er, endlich zur Tat zu schre...
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Ich brauche dringend einen neuen Gott. Mein alter passt mir nicht mehr so richtig. Er ist auch schon reichlich schäbig geworden, nach all de...