Sonntag, 31. August 2025

Aus dem „Prophetischen Tagebuch“

Manchmal bleibt mein Engel zu Hause. Warum auch nicht, wenn es nichts zu verkünden gibt? Dann kann er sich den Weg zu mir sparen. Wenn er zu mir kommt, kommt er nicht ja zum Vergnügen. Übrigens auch nicht zu meinem. Es geht um Arbeit. Unser Verhältnis ist rein geschäftsmäßig. Er sagt mir, was zu tun ist, und ich mache mich ans Werk. Erst wenn er weg ist, erlaube ich mir, ein wenig zu zu murren. Ich murre immer, schon aus Gewohnheit, die Freiheit nehme ich mir. Zwar erledige ich, was man mir aufträgt, aber ich behalte mir vor, meine Bedenken zu haben. Was bringt das schon, was ich machen soll? Ich gehöre nicht zu denen, die viel bewirken. Meistens bewirke ich sogar gar nichts. Trotzdem mache ich, wie gesagt, immer, was der Engel mir verkündet hat. Meine Arbeit dient ja nicht mir selbst, es ist Auftragsarbeit zum Nutz und Frommen anderer. Ob sie mir gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Sicher, ich bemühe mich, sie gut zu machen, aber auch das spielt keine Rolle. Wenn mein Engel mir einen neuen Auftrag bringt, fragt er nie nach der Erledigung des alten und sagt nichts dazu. Es ist eben alles, wie es ist. Und wenn er zu Hause bleibt, dann gibt es eben nichts zu tun. Zumindest keine Auftragsarbeit. Das ist mir ganz recht, denn es ist ja nicht so, dass ich mir sonst nichts zu tun wüsste.

Dienstag, 26. August 2025

Blumfeld (13)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, war unzufrieden mit seiner Verwandtschaft. Seine Eltern waren ja zum Glück schon tot, die Großeltern seit langem, und Geschwister hatte er keine, aber da gab es jede Menge Onkel und Tanten, Vettern und Basen, Neffen und Nichten, Großneffen und Großnichten. Eine vielköpfige Mischpoche. Und es hörte nicht auf, Jahr für Jahr wurden neue Kinder geboren, eheliche und uneheliche, immer weiter und weiter, in jeder Generation wurden es mehr. Andere Leute können sagen, sie hätten ihre Familie verloren oder doch Teile davon, dachte Blumfeld. Durch Eisenbahnunglücke, Flugzeugabstürze, Kriege, Erdbeben, Waldbrände, Endlösung, Seuchen, Massenpaniken, Hauseinstürze, Mord und Totschlag, Vulkanausbrüche, Flutwellen, was weiß ich. Aber bei mir gibt nichts dergleichen und nichts derartiges steht in Aussicht. Gewiss, es wird in der Verwandtschaft auch gestorben, aber noch viel öfter werden Kinder in die Welt gesetzt. Unaufhörlich. Es ist schrecklich, befand Blumfeld. Anscheinend gab es unter seinen vielen Verwandten keine Hagestolze oder alte Jungfern, keine Mönche und Nonnen, keine Sodomiten und Tribaden, niemanden, der keine Kinder machen konnte oder wollte. Da wurde vielmehr gezeugt und empfangen, ausgetragen und geboren auf Teufel komm raus, eine fanatische Fortpflanzerei, eine nicht enden wollende Orgie der gesunden, normalen, produktiven Sexualität. Wie es schien, war Blumfeld der einzige der Sippe, der keine Kinder hatte, nicht einmal ein einziges. Das wäre nie für ihn in Frage gekommen. Was für die anderen selbstverständlich war, fand er gewöhnlich und abstoßend, dieses beständige Kindermachen und alles, was dazugehörte. Wie konnte man nur. Wie konnten die nur. Zum Glück habe ich nichts mit diesen Leuten zu tun, sagte sich Blumfeld. Sie kennen mich ja auch nicht oder wollen zumindest nichts von mir wissen. Ich bekomme keine Geburts- oder Traueranzeigen, keine Karte zu Weihnachten, nichts. Was ich über die diversen Geburten und Todesfälle erfahre, erzählen mir fremde Leute. Das ist meist mehr, als ich wissen will. Wir haben nichts mit einander zu tun, meine sogenannten Verwandten und ich. Ich habe von diesen Leuten auch nichts zu erwarten. Von wegen Erbtante oder Erbonkel, keine Chance, nie, wer überhaupt etwas besaß, vererbte es seinen Kindern und Kindeskindern. Wie auch immer, dachte Blumfeld, ich brauch nichts von denen, ich habe nie etwas von ihnen gebraucht, ich bin auch so zurecht gekommen. Und die sollen auch bloß nicht glauben, bei mir gäbe es was zu erben. Lieber hinterlasse ich alles, was ich habe, dem Tierschutzverein, als das da irgendeiner von denen auch nur einen roten Heller bekäme. Kurzum, so Blumfeld. ich interessiere mich nicht für meine Verwandtschaft und sie interessiert sich ganz offensichtlich nicht für mich. Vielleicht reden sie ja hinter meinem Rücken über mich. Bestimmt nichts Gutes. Aber das kann mir egal sein. Es ist mir egal. Für mich sind das völlig Fremde, sagte sich Blumfeld.

Blumfeld (12)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, war also verliebt in den jungen, hübschen Bürogehilfen Anton Cibulka. Selbstverständlich verbot sich nach außen hin jede andere Art der Beziehung als die, dass der eine die Post austeilte und der andere sie entgegennahm. Leider gab es dabei nicht einmal etwas zu reden außer Bitte und Danke. Begegneten sie einander zufällig irgendwo im Haus, grüßten sie einander sehr höflich, der kleine Gehilfe den höhergestellten Beamten selbstverständlich zuerst, nannten einander Herr Blumfeld und Herr Cibulka, mehr kam nicht in Frage, worüber hätten sie auch reden sollen. Dabei konnte Blumfeld Tag und Nacht kaum noch an etwas anderes denken als an seinen Anton. Bei der Arbeit vermochte er sich nur mit Mühe zu konzentrieren und zwischen Dienstschluss und Dienstbeginn war er dann wieder ganz von seiner Verliebtheit nahezu restlos ausgefüllt. Der Höhepunkt jeden Arbeitstages war, wenn der Bürogehilfe die Post verteilte. Das war schön. Wenn allerdings Herr Cibulka nichts für Herrn Blumfeld dabei hatte, was selten geschah, aber vorkommen konnte, dann war Blumfeld besonders erfreut, denn dem Fall hieß es: „Heute nichts, Herr Blumfeld“, und nicht bloß: „Bitte“ oder „Bitte schön.“ An den Sonntagen hingegen, wenn er nicht ins Büro gehen durfte, wusste Blumfeld kaum etwas mit sich anzufragen. Weil gerade Sommer war, ging er nachmittags in die Schwimmschule. Wie hätte er sich gefreut, jenen jungen Mann dort zu treffen! Aber selbstverständlich passierte das nicht. So war das wirkliche Leben nicht. Dort war nur alte Männer, wie Blumfeld selbst, oder junge Kerle und Knaben, die ihm völlig egal waren. Selbst die wohgestaltesten unter den Jünglingen hielten ja den Vergleich mit Anton Cibulka nicht aus. So blieb Blumfeld nur, sich abends zu Hause in Träumereien zu ergehen. Dass er den Geliebten doch in der Schwimmschule getroffen habe. Dass sie sich gut unterhalten hätten und miteinander um die Wette geschwommen seien. Dass Anton ganz entzückend in seiner Badekleidung ausgesehen habe. Dass er sich ganz ungezwungen gegeben habe und sehr freundlich und geradezu zutraulich gewesen sei. Dass sie sich fürs nächste Wochenende zum Rudern auf der Moldau verabredet hätten, wozu es dann auch gekommen sei. Dass sie lange gerudert und schließlich das Boot irgendwo an einem Ufer festgemacht hätten, an einer ruhigen, ungestörten Stelle, dass sie dann zur Abkühlung ein wenig geschwommen seien und sich danach am Ufer von der Sonne hätten trocken lassen. Dass es dabei irgendwie zu zufälligen, ganz unschuldigen Berührungen gekommen sei. Dass daraus dann absichtliche geworden seien. Dass sie einander schließlich umarmt und gestreichelt und geküsst hätte. Und dass … ― aber weiter träumte Blumfeld nicht. Auch in seinen Träumen wahrte er die Schicklichkeit.

Blumfeld (11)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, war verliebt. Hals über Kopf und bis über beide Ohren verliebt in den neuen jungen Bürogehilfen, der seit zwei Wochen im ganzen Haus die Amtspost in den verschieden Abteilungen verteilte. Ein hübscher Kerl, schlank, fast schmächtig, wohl noch unausgewachsen, etwas blass, aber rosig, dazu lockiges dunkles Haar, korrekt geschnitten, aber unmöglich zu scheiteln. Vor lauter Beflissenheit und Angst, einen Fehler zu machen, lächelte der Knabe nie, auch nicht, wenn Blumfeld sich bei ihm höflich für die überreichten Poststücke bedankte und dabei seinerseits lächelte, gerade so viel, dass es nach natürlicher Freundlichkeit und allenfalls dem sozusagen onkelhaftem Wohlwollen eines älteren Kollegen aussehen sollte, aber nicht so viel, dass irgendjemand hätte Verdacht schöpfen können. Dabei wäre Blumfeld bei diesen ihren einzigen Begegnungen immer danach gewesen, den Jüngling hemmungslos anzuschmachten. Das unterließ er tunlichst. Das kam nicht in Frage. Doch immerhin nahm Blumfeld sich vor, dass er, wenn der junge Mann erst völlig eingearbeitet und dann etwas entspannter sein werde, er, Blumfeld, bei der Postübergabe irgendwann einmal irgendeinen belanglosen Scherz machen werde. Er freute sich schon jetzt darauf, dann ein Lächeln zu sehen, vielleicht sogar ein kurzes Auflachen zu hören. Das Lächeln wäre bestimmt göttlich und das Lachen herzerfrischend. Ach ja. Immerhin hatte Blumfeld schon feststellen können, dass der herrliche Knabe braune Augen hatte. Rehäugiger Hermes, nannte er den Jüngling darum im Stillen. Tatsächlich war der junge Mann Blumfeld wie allen anderen Beamten zu Beginn seiner Tätigkeit vom einschulenden alten Bürogehilfen namentlich vorgestellt worden: Cibulka Anton. Für Blumfeld war das seither der schönste Name der Welt.

Samstag, 23. August 2025

Der neue Gott

Ich brauche dringend einen neuen Gott. Mein alter passt mir nicht mehr so richtig. Er ist auch schon reichlich schäbig geworden, nach all der Zeit, an manchen Stellen geradezu fadenscheinig. So kann ich mich ja schon nicht mehr unter die Leute trauen. Ein neuer Gott muss also her. Die Sache ist bloß die: Ich probiere nicht gerne neue Götter aus. Der ganze Aufwand, das Aussuchen, Anprobieren, Vergleichen, Entscheiden, dann womöglich noch Anpassenlassen: All das ist mir lästig. Ich verabscheue es regelrecht. Darum habe ich den alten Gott auch solange wie möglich weiterverwendet. Zu lange, wie ich zugeben muss. Es hilft also nichts, ich muss mich umsehen, irgendwo werde ich schon fündig werden. Am liebsten wäre mir ja, gleich der erstbeste Gott wäre der richtige, ich müsste nicht lange suchen, und die Sache wäre rasch erledigt. Einen Gott ausprobieren und gleich sagen können: Der ist es, der passt mir, der gefällt mir, den nehme ich. Dann müsste ich gar keine anderen mehr probieren. Na ja, vielleicht legte ich mir auch noch einen zweiten zu, nur so zur Sicherheit, falls mit dem ersten mal was ist. Der alte wird dann einfach entsorgt, da bin ich nicht sentimental, was weg muss, muss weg. Es fängt ja keiner mehr etwas Sinnvolles damit an. Und dann habe ich auch das mit meinem Gott wieder für längere Zeit hinter mich gebracht. Irgendeinen braucht man ja, man kann schließlich nicht ohne auf die Straße gehen. Für mich ist dabei die Hauptsache, er ist bequem und erfordert nicht viel Pflege. Ich sage mal so: Am liebsten möchte ich gar nicht daran denken müssen, dass ich ihn habe. Dann wäre ich wirklich mit ihm zufrieden.

Freitag, 22. August 2025

Blumfeld (10)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, kannte niemanden und niemand kannte ihn. In dieser ganzen Stadt, in der er seit jeher lebte, war er völlig unbekannt. Manchmal hatte er das Gefühl, die Leute auf der Straße sähen ihn an, als würden sie ihn erkennen, aber dann meinte er zu verstehen, dass sie ihn wohl deshalb so merkwürdig ansahen, gerade weil er ihnen so ganz und gar unbekannt war und er auch niemandem, den sie kannten und je gekannt hatten, auch nur im Geringsten ähnlich sah. Aber Blumfeld musste zugeben, dass die meisten Leute ihn gar nicht beachteten. Wie oft wurde er auf der Straße offensichtlich ohne Absicht angerempelt, er war einfach übersehen worden, doch wenn die Passanten sich umdrehten, übersahen sie Blumfeld noch einmal, entschuldigten sich daru nie und gingen wieder ihrer Wege. Er war eben einer, den man sich nicht merkte. Selbst die Kellner in dem Kaffeehaus, das Blumfeld seit vielen jahrem mehrmals in der Woche aufsuchte, schienen sich seiner nie zu erinnern. Nie fragten sie: Das Übliche, mein Herr?“ Geschweige denn, dass sie seinen Namengewusst hätten. Oft vergaßen sie sogar, ihm das vorhin erst Bestellte zu bringen oder brachten das Falsche. Darjeeling-Tee statt Assam-Tee oder umgekehrt, Apfelstrudel statt Topfenstrudel, Dobos-Torte statt Esterházy-Schnitte, Schinkenrolle statt Butterkipferl. Wenn Blumfeld Einwände erhob, ließen sie erkennen, dass ganz sicher nicht sie sich geirrt hatten, sondern er ein schwieriger Gast war, der hoffentlich nicht wiederkommen wolle. Also hatte Blumfeld sich angewöhnt, das zu verzehren, was man ihm brachte. Hinterher lobte er immer und gab gutes Trinkeld. Aber auch das nutzte ihm selbstverständlich nichts. Beim nächsten Mal war er wieder ein völlig Unbekannter. Auch Blumfelds Zugehfrau wirkte immer erstaunt, wenn sie ihn in seiner Wohnung antraf, wenn sie einmal in der Woche, immer samstags, zum Putzen, Wäschewaschen und Bügeln kam. Ach, Sie sind das. Nun, so lernen wir einander endlich einmal kennen. Ich bin Frau Nechvatal, aber das haben sie ja gewiss schon erraten. Ich habe schon bei dem Herrn geputzt, der bis vor Kurzem vor Ihnen hier gewohnt hat.“ So sehr ihn solches Gerede ärgerte, Blumfeld hatte sich fast schon damit abgefunden. Nicht so mit der Einsamkeit. Er hatte nämlich keine Freunde oder wenigstens guten Bekannten. Aber er hätte, das musste er zugeben, sehr gerne welche gehabt. Warum auch immer. Nur so. Früher habe er Freunde gehabt, war Blumfeld überzeugt, aber irgendwie waren sie ihm anscheinend alle nach und nach abhanden gekommen. Das musste schon eine Weile her sein, denn so genau konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum er jetzt keine Freunde mehr hatte. Ein paar hatten sich umgebracht, das wusste er noch. Da konnte man nichts machen, die fielen aus. Andere hatten sich vermählt und waren sehr häuslich geworden. Deren Pech. Wieder andere hatten wohl von einem Tag auf den anderen den Verkehr mit Blumfeld eingestellt, ohne dass zuvor irgendetwas vorgefallen wäre, was es erklärt hätte, zumindest nichts, wovon Blumfeld etwas gewusst hätte. Mit einigen hatte er sich zerstritten, dass meinte Blumfeld noch zu wissen, auch wenn er ganz und gar nicht mehr wusste, worum es dabei gegangen sein könnte und wer den Streit begonnen hatte und sich hätte entschuldigen müssen. Vielleicht er, vielleicht auch nicht. So oder so, weg war weg. Er war allein. Mutterseelenallein, wie man so sagt, sagte sich Blumfeld. Im Grunde blieb ihm also nur noch sein Arbeitsplatz und seine dortige Kollegen. Und da trat nun eine besonders unangenehme Schwierigkeit auf, denn Blumfeld konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wo er gearbeitet hatte, und nicht einmal daran, worin seine Arbneit bestanden hatte. Die Gesichter und erst Recht die Namen der Kollegen waren ihm bedauerlicherweise völlig entfallen. Er rätselte oft, wie die Firma oder die Behörde geheißen hatte, bei der er jahrelang sein Geld verdient hatte. Blumfeld hatte sogar erwogen, das ganze Telephonbuch von vorn bis hinten durchzulesen, er dachte nämlich, wenn er den Firmennamen oder die Bezeichnung der Behörde läse, kämen die Erinnerungen vielleicht zurück. Das scheiterte aber daran, dass er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie diese Stadt hieß, in der er anscheinend wohnte. Welches Telephonbuch hätte er also lesen sollen? Jedes, das es im Hauptpostamt gab? Er blätterte also stattdessen manchmal in einem alten Adressbuch seines Großvaters, aber das war in Gabelsbergerscher Kurzschrift verfasst, und die konnte Blumfeld nicht lesen. Aber er blieb gelassen. Wenn es wichtig war, werde es ihm schon wieder einfallen, sagte er sich. Was immer es denn war, woran er sich nicht erinnerte. Auch das hatte er nämlich vergessen. Nun, beschloss Blumfeld, dann werde ich eben meinen guten Freund Gabelsberger danach fragen, der weiß das bestimmt. Wusste der nicht auch immer, was ich im Kaffeehaus zu bestellen pflegte? Die Frage ist nur, ob er mich nach all der langen Zeit überhaupt wiedererkennen wird, der Dingsbums. Und wie heißt das Café, wo ich ihn treffen soll? Na, wenn es ihm gehört, wird es ja wohl nach ihm heißen. Café Nechvatal also. Dort muss ich hin. Dort fällt mir dann auch bestimmt wieder ein, warum.

Donnerstag, 14. August 2025

Blumfeld (9)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, hatte sich die Flötentöne selbst beigebracht, zudem ganz ohne irgendein Instrument. Jetzt beherrschte er sie vollkommen. Doch damit nicht genug, er hatte für die Töne auch ein neues System erdacht, in dem er sie alle aufsteigend nach ihren Farben ordnete, die stacheligen von den dornigen unterschied und so jede verfrüht auftretende Bitterkeit umgehen konnte. Das war neu, geradezu revolutionär und musste den Fachleuten, aber auch den Laien großen Eindruck machen. Selbstverständlich hatte Blumfeld sein System recht bald verschiedenen Musikwissenschaftlern und ausübenden Musikern erst im In-, dann im Ausland zur freien Verwendung angeboten. Aber auf seine höflichen Schreiben hatte er unhöflicherweise nie eine Antwort erhalten. Das hatte Blumfeld ein wenig verstimmt. Aber er tröstete sich damit, dass die Leute halt das Ungewohnte scheuten. Vielleicht sahen sie in ihm auch ungerechtfertigterweise einen Konkurrenten. Dabei war Blumfeld weder von Rumsucht noch von geschäftlichen Interessen gerieben. Er war einfach ein Menschenfreund, sagte er sich, der eine gute Sache vertrat, von der alle etwas haben konnten. Darum hatte es Blumfeld im vorigen Frühjahr auch zunächst sehr gefreut, dass ein Drehorgelspieler, dem er zufällig auf der Straße begegnet war und dem er beiläufig in einer Spielpause von seinem System zu erzählen begonnen hatte, sich daran sehr interessiert gezeigt hatte. Aber nachdem Blumfeldt sodann die Einzelheiten in aller gebotenen Ausführichkeit dargelegt hatte, waren sie nach sehr kurzer Diskussion schließlich übereingekommen, dass Pfeifen- und Flötentöne wohl doch etwas ganz Verschiedenes seien, und der Drehorgelspieler war kopfschüttelnd seiner Wege gezogen, offensichtlich voller Staunen und Bewunderung, weil ihm etwas so Durchdachtes und Sinnfälliges wie Blumfelds System in seiner ganzen musikantischen Karriere bestimmt noch nicht untergekommen war.

Mittwoch, 13. August 2025

Mutter Natur

Die Spitzmäuse waren früher, lest es nur irgendwo nach, so groß wie heute die Elephanten. Aber die Wälder wurden irgendwann kleiner, die Bäume standen enger und das Futter wurde karger. Da griff Mutter Natur ein und ließdie Spitzmäuse bis zu ihrer heutigen Größe schrumpfen.
 
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Dafür waren früher, auch das könnt ihr irgendwo nachlesen,  die Elephanten nur so groß wie heute die Spitzmäuse. Weil aber deswegen im hohen Gras der Savanne immer wieder welche verloren gingen und das die Herden beunruhigte, griff Mutter Natur ein und ließ die Elephanten bis zu ihrer heutigen Größe wachsen.

Freitag, 8. August 2025

Eine andere Tür

So, da wären wir also. Hier wohne ich. Gleich bin ich zu Hause. Gleich lege ich mich ins Bett. Endlich. Aber hoppla, da gibt es anscheinend ein Problem. Hinter welcher dieser Türen genau wohne ich? Es sind so viele. Welche davon ist meine? Und wieso weiß ich das nicht? Blödsinn, selbstverständlich weiß ich es, die sehen bloß gerade alle so völlig gleich aus. Das macht es unerwartet schwierig. Einen Moment, das muss doch zu machen sein, ich muss mich bloß konzentrieren, dann fällt es mir bestimmt wieder ein. Nein, doch nicht. Das Einfachste wäre es vermutlich, wenn ich ausprobierte, bei welcher Tür mein Schlüssel passt, wo er aufschließt, dort wohne ich. Das Problem ist nur, wie ich gerade feststellen muss, dass ich meinen Schlüssel nicht bei mir habe. Ich werde ihn doch nicht verloren haben? Ach was, selbstverständlich habe ich ihn nicht verloren, das wäre ja zu blöd. Wahrscheinlich habe ich ihn beim Weggehen einfach zu Hause vergessen. Sozusagen in der Wohnung zurückgelassen. Er befindet sich also hinter der Tür und ich davor. Schon irgendwie witzig. Aber gar nicht lustig. Im Gegenteil. Sehr unangenehm. Eine ausgesprochen missliche Lage. Was soll ich jetzt bloß machen? Ich kann ja nicht gut irgendwo klingeln und sagen: „Verzeihen Sie bitte die Störung, aber wohne ich hier? Nein? Sind Sie sicher? Nun gut, können Sie mir dann vielleicht sagen, wo ich Ihrer Meinung nach wohne? Ich denke nämlich, hier in diesem Haus, in diesem Stockwerk müsste es irgendwo sein. Ja, sicher weiß ich, dass es mitten in der Nacht ist. Habe ich Sie etwa geweckt? Das tut mir leid. Aber sehen Sie, für mich ist das alles hier auch sehr unangenehm, denn wie gesagt … Ja, stimmt, ich bin betrunken. Sehr sogar. Völlig richtig erkannt. Ist aber auch ziemlich offensichtlich, was? Und außerdem wäre es auch nicht besser, wenn ich Sie mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte und dabei völlig nüchtern wäre, meinen Sie nicht? Oder wenn ich mitten am Tage sturzbetrunken wäre. So hat irgendwie also alles durchaus seine Richtigkeit. Wie auch immer. Um auf meine Frage zurückzukommen … Hallo? Na sowas, macht mir der Kerl einfach die Tür vor der Nase zu. Mitten im Gespräch. Und so einer will ein guter Nachbar sein. Pfff!“ Habe ich das jetzt wirklich erlebt oder mir nur vorgestellt? Egal. An der misslichen lage hat sich nichts geändert. Was tun? Man könnte denken, ich brauchte ja bloß die Namensschilder am den Türen zu lesen, dann wüsste ich bald, wo ich wohnte. Nur dass ich Augenblick davor eher zurückschrecke, besagte Schilder zu lesen. Denn ich muss mir leider eingestehen, dass ich jetzt und hier nicht mit ausreichender Sicherheit weiß, wie ich heiße. Schön blöd, das gebe ich zu. Wie kann man nur so besoffen sein! Jedenfalls wäre mir in meinem derzeitigen Zustand das Lesen all der Namen, sofern es mir denn überhaupt gelänge, keine große Hilfe, vermute ich mal. Denn vorhin las ich an irgendeiner Tür einen Namen, der kam mir dermaßen bekannt vor, dass ich mir schon ziemlich sicher war, es müsse wohl mein eigener sein. Allerdings hatte der dabeistehende Vorname das falsche Geschlecht. Glaube ich. Ich befürchte jedenfalls, es ginge mir mit anderen Namen genauso. Jeder davon könnte durchaus mein eigener sein. Hier zum Beispiel, an der Tür des unfreundlichen Nachbarn, bei dem ich geklingelt hatte, auch dieser Name kommt mir sehr bekannt vor. Vorname steht zudem keiner dabei. Heiße ich wirklich nicht so? Der Kerl kann ja auch gelogen haben, unfreundlich, wie er war. Vielleicht wohne ich also doch hier. Vielleicht war die Unfreundlichkeit auch nur gespielt. Eine Art von Streich, sozusagen. Könnte doch sein. Vielleicht heiße ich also sehr wohl wie er und gehöre zu seiner Familie, bin Sohn oder Tochter, Onkel oder Tante. Denn wie schon angedeutet, ich bin mir augenblicklich nicht ganz sicher, ob ich Männlein oder Weiblein bin. Na, egal. Damit befasse ich mich später. Zuerst der Name. Mir scheint jetzt doch wieder, dass ich ganz anders heiße. Das kommt mir sogar immer wahrscheinlicher vor, je mehr ich darüber nachdenke. Dann gehöre ich also vermutlich nicht zur Familie des Nachbarn und wohne auch nicht in dessen Wohnung. Nein, mit ziemlicher Sicherheit nicht. Zumal mir gerade auffällt, das hier kann gar nicht das Haus sein, in dem ich wohne, bei uns sehen die Fenster irgendwie anders aus. Ganz anders. Anscheinend bin ich hier völlig falsch. Irgendwie ins falsche Haus geraten. Sowas Blödes. Kein Wunder, dass die Suche nach der richtigen Tür nichts ergeben hat. Aber die Tür dort drüben kommt mir trotzdem bekannt vor. Ob ich nicht vielleicht doch dahinter wohne, falsches Haus hin oder her?

Donnerstag, 7. August 2025

Blumfeld (8)

Blumfeldt, ein älterer Junggeselle, hatte sich vor geraumer Zeit ein kleines, geheimes alchymistisches Laboratorium eingerichtet. Dabei war er recht raffiniert vorgegangen. Nachdem die Nachbarwohnung durch den Tod der alten Frau frei geworden war, hatte Blumfeldt dem Hauseigentümer kurzerhand den Vorschlag gemacht, beide Wohnungen zu kaufen. Herr Grubach war zunächst recht erstaunt gewesen, hatte dann aber nachgerechnet und den Vorschlag gern angenommen. Solche Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen waren heutzutage nicht sehr begehrt, hatte sich Grubach gesahgt, schon weil sie keine Badezimmer hatten und nur ein Klosett am Gang für das ganze Stockwerk. Miete konnte man also nicht viel für sie verlangen. Darum lieber jetzt einen kleinen Batzen Geldes in die Hand bekommen als mickrige Einnahmen über Jahre. Woher dieser Blumfeldt, ein kleiner Beamter, eigentlich das Geld, konnte ihm, so Grubach, ja ganz gleichgültig sein. Vielleicht hatte er geerbt. Der Vertrag wurde jedenfalls dann sehr bald beim Notar unterschieben, die Kaufsumme rasch bezahlt, die Eintragung ins Grundbuch würde demnächst folgen, die Sache war somit in kürzester Frist erledigt. Für Blumfeldt begann sie da aber erst. Statt die beiden kleinen Wohnungen zusammenzulegen, wie Grubach vielleicht erwartet hatte, ließ er in der Nebenwohnung die Tür zum kleineren Zimmer entfernen, den Türstock herausreißen und die Lücke zumauern. Dann ließ er einen Tapezierer die Wand so verkleiden, dass niemand erraten konnte, dass da eine Tür gewesen war. Die neu entstandene Einzimmerwohnung würde er vermieten, hatte Blumfeld beschlossen, am besten an Studenten, die würden nie lange bleiben. Zum abgetrennten Kabinett ließ Blumfeld sodann von seiner Wohnung aus einen Durchbruch machen, eine Türstock und eine Tür einsetzen. Vor diese schob er später seinen Kleiderschrank, von dem er die Rückwand entfernt hatte. Auf diese Weise hatte er sich ein Zimmer mit geheimem Zugang verschafft. Die Handwerker hatte er aus Brünn kommen lassen, die würden nichts ausplaudern. und die Zugehfrau hatte, trotz all ihrer Neugier, keine Veranlassung, die Rückwand des Kleiderschranks zu untersuchen. Wichtig war, dass sie nie in die Nebenwohnung vordrang, vielleicht wäre sonst sie trotz ihrer Geistesschwäche, die Blumfeld sonst oft so lästig war, darauf gekommen, dass dort ein Zimmer fehlte. Dagegen wollte Blumfeld sich versichern, indem er nur an Medizinstudenten vermieten würde, vor deren anatomischen Tafeln, künstlichen Totenköpfen und in Formalin eingelegten Amphibien es dem dummen Weib gewiss grausen musste, so gern sie sich wohl auch dort in der Nebenwohnug mit ein wenig Putzen und Ausräumen bei einem jungen Herrn etwas dazu verdient hätte. Wie sich später erweisen sollte, ging Blumfelds Plan auf, zumal es ihm mehrfach gelang, an Studenten aus Siebenbürgen und Bosnien zu vermieten, und mit solchen bedenklichen Leuten wollte Frau Nechvatal als anständige Frau nichts zu tun haben; Rumänen, Bosniaken und weiß der Teufel was, wo kam man denn da hin! Blumfeld jedenfalls hatte sich durch die nicht sehr aufwändigen Baumaßnahmen und den Trick mit der Tür hinterm Schrank sein Geheimkabinett verschafft und stattete es nun zünftig aus: ein Athenor, ein Alembik, eine Serpentine, ein Pelikan, mehere Retorten und Kupellen und andere Gefäße gehörten dazu, weiters Mörser, Stößel, Zangen, einen Blasebalg usw. usf., nicht zu vergessen das Bücherregal, das eine kleine, aber beachtliche alchymistische Bibliothek aufnahm, dazu ein robuster Tisch und ein wuchtiger Lehnstuhl. Oben auf das Bücherregal stellte Blumenfeld einen ausgestopften Raben; das heißt, er hielt das Tier für einen Raben, tatsächlich war es zwar ein Rabenvogel, allerdings eine Dohle. Die Möbel und Bücher besaß er schon seit langem, die Geräte besorgte er nach und nach, oft bei kleinen Reise ins Ausland, um nur ja seine Spur zu verwischen. An die freien Wände hängte Blumfeld Stiche mit alchymistischen und theosophisch-mystischen Allegorien. Schließlich hatte er sein Laboratorium fürs Erste ganz passabel eingerichtet, wie er fand, und begann vorsichtig mit seinen ersten Experimenten. Dabei galt sein Interesse weder jetzt noch später dem Stein der Weisen und der Kunst des Goldmachens oder dem Elixier des Lebens oder irgendwelchen Panazeen und schon gar nicht dem Homunkulus, sondern er (Hier bricht das Manuskript ab. Anm. d. Hrsg.)

Blumfeld (7)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, hatte es endgültg satt, dass ihm nie jemand zuhörte. Sogar die Kellner im Kaffeehaus hörten ihm nicht zu und brachten ihm nur zufällig das, was er bestellt hatte. Es war zwar ohnehin das Richtige, nämlich das, was er immer zu bestellen pflegte, aber darauf kam es nicht an. Tatsache war, dass sie ihm nicht zugehört hatten. Das ärgerte Blumfeld. Die ganze Welt ärgerte ihn. Das wollte er sich nicht länger gefallen lassen. Von nun an stellte er sich stumm und schrieb, wie Beethoven, das, was zu sagen war, auf kleine Zettel. Die mussten die andern dann lesen. Blumfeld überlegte zwar, dass vielleicht nicht Beethoven den andern, sondern viemehr die andern Beethoven etwas aufgeschrieben hatten, der ja nicht stumm, sondern taub gewesen war. Aber darauf kam es nicht an. Beethoven her oder hin, Blumfeld hatte manches zu sagen und schrieb es auf. Er schrieb und schrieb und schrieb. Im Laufe der Wochen, Monate und Jahre wuchs die Zahl der Zettel gehörig an. Blumfeld schuf auf diese Weise ein umfangreiches schriftliches Werk. Zwar wiederholten sich die Texte der Zettel  Bitte noch einen Verlängerten oder Guten Tag, Frau Nechvatal oder Den Akt bringen Sie bitte in die Registratur, Herr Kollege oder Halten Sie den Mund, Sie Canaille, jetzt rede ich ―, aber Blumfeld schrieb alles immer wieder neu, zumal es ihm schwer gefallen wäre, alle seine Zettel oder auch nur die wegen ihrer Alltäglichkeit für eine Wiedervorlage in Frage kommenden so übersichtlich geordnet mit sich zu führen, dass er bei eintretender Gelegenheit rasch den richtigen hätte zücken können. Dafür waren es dann doch viel zu zu viele. Und außerdem beachtete Blumfeld die Zettel, wenn er sie beschrieben hatte, nicht weiter. Als eingefleischter Bürokrat mit großer Ehrfurcht vor allem Geschriebenen warf er sie zwar nicht weg, sondern verstaute am Ende des Tages die jeweils angefallene Menge von Zetteln zu Hause in einem alten Aktenschrank. Aber er sah sich sein Werk nie wieder an. Das wäre auch zu schmerzlich gewesen. Denn schon bald, nachdem Blumfeld damals begonnen hatte, das, was er zu sagen hatte, aufszuschreiben, hatte er feststellen müssen, dass die Leute nicht nur nicht zuhörten, sondern auch nicht lasen. Ob sie nicht konnten oder nicht wollten, darauf kam es nicht an. Sie taten es nicht. Sie unterstellten immer bloß, was Blumfeld ihrer Meinung nach geschrieben hatte. Was er sozusagen geschrieben haben sollte. Auch das ärgerte Blumfeld selbstverständlich. Aber was hätte er schon dagegen ausrichten können? Wie seinen Ärger mitteilen? Reden? Schreiben? Vortanzen? Also fuhr er, nachdem er nun einmal damit angefangen hatte, damit fort, alles aufzuschreiben, was er zu sagen hatte. Er schrieb und schrieb und schrieb. Auf diese Weise hinterließ er, als er starb, ein umfangreiches Werk. Seine Zugehfrau, Frau Nechvatal, die den Zugriff der Erben nicht untätig abwarten wollte und noch vor dem Begräbnis schon einmal die Wohnung nach Dingen von Wert durchsuchte, fand all die Zettel im alten Aktenschrank und verbrannte sie im Küchenofen. Sie nahm an, es könne sich nur um Schweinereien handeln, und wollte nicht, dass Blumfelds Ansehen beschädigt würde. Sie hatte ihren Herrn zwar nie leiden können, aber sie sagte sich, dass es auch auf sie zurückfallen müsste, wenn der Tote wegen irgendwelcher beschriebener Zettel eine schlechte Nachrede hätte. Und wie kam sie als anständige Frau eigentlich dazu, dass ihr die Leute hätten nachsagen dürfen, für einen abartigen Kritzler gearbeitet zu haben? Besser also, das widerliche Zeug wurde verbrannt. Wertsachen übrigens hatte sie in der Wohnung leider keine gefunden. Nicht einmal eine Briefmarkensammlung. Sehr, sehr schade. Geradezu eine Gemeinheit. Von nun an hasste sie Blumfeld von ganzem Herzen.

Ich war einmal

Es war einmal einer, sage ich, der sagte, es sei einmal gewesen. Daraus folgt unter anderem, denke ich, für jedermann verständlich, dass er nicht ich ist. Denn zwar ist er es, der es sagte, aber ich bin es doch, der sagt, dass er es sagte. Nun ist es aber so, gebe ich, hoffe ich, damit ebenfalls zu verstehen, dass auch ich nicht ich bin. Nicht immer und überall. Nicht zwangsläufig. Nicht unbedingt. Das sagt sich so leicht, sage ich, aber wer versteht das schon? Darum sage ich manchmal, dass er es sagte. Das versteht jeder. Oder nicht? Sonst weiß ich nicht, was ich sagen soll. Was denkst du?

Montag, 4. August 2025

Die Tür

Hinter meiner Türe wohnt ein anderer. Wer das ist, weiß ich nicht. Ich hatte noch keine Gelgenheit, ihn kennenzulernen. Er scheint nett zu sein, sagen die einen. Er ist ganz grässlich, sagen andere. Auf dem Türschild steht, wie ich sehe, immer noch mein Name. Aber das kann nicht stimmen. Der andere muss doch anders heißen. Jedenfalls weiß ich nicht, was ich tun soll. Anzuläuten oder anzuklopfen, wage ich nicht. Was, wenn er öffnete? Was, wenn er mich hineinbäte? Und gar nicht auszudenken, was wäre, wenn doch ich selbst hinter meiner Türe wohnte.

Notiz

Der Unhold Albert Albrecht zersägte immer mal wieder Frauen, aber nicht auf offener Bühne zum schaurigen Amüsement eines zahlenden Publikums, wie es Zauberkünster in Varités zuweilen zu tun vorgaben, sondern heimlich im Keller, um die nicht mehr benötigten Körper der armen Opfer, an denen er sich auf unaussprechliche Weise vergangen und die er in höchster Erregung ermordet hatte, besser verschwinden lassen zu können, damit seine widerwärtigen Taten nicht entdeckt und ihm zum Verhängnis werden konnten.

Blumfeld (6)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, hatte sich im Laufe der Jahre vom kleinen Konzeptionisten zum stellvertretenden Leiter einer Unterabteilung hinaufgearbeitet. Während einer langen, etwas geheimnisvollen Abwesenheit seines Chefs war ihm sogar die faktische Leitung der Unterabteilung zugefallen und er hatte sich dabei sehr bewährt. Blumfeld war bei seinen Vorgesetzten wegen seines Fleißes, seinen umfassenden Kenntnissen und seiner Fähigkeit, auch schwierige Angelegenheiten rasch und gründlich zu erledigen, sehr angesehen und bei seinen Kollegen wehen seiner bescheidenen und immer hilfsbereiten Art durchaus beliebt. Nun gut, Neider gab es ja immer. Und manche verübelten Blumfeld wohl seine nahezu unanfechtbare Stellung und das bisschen außeralltäglichen Glanzes, das vorübergehend auf ihn fiel. Es begab sich nämlich in der Zeit, in der er die Unterabteilung de facto leitete, dass Blumfeld mehrfach zum Vortrag an allerhöchster Stelle bestellt wurde. Seine Apostolische Majestät, der Kaiser und König, nahm überraschenderweise an der Tätigkeit der Unterabteilung, die, falls es noch nicht erwähnt wurde, mit der administrativen Beaufsichtigung sämtlicher kaiserlich-königlich privilegierten alchymistischen Experimente zuständig  war, lebhaft Anteil. Und die Goldene Stadt war nun einmal der Mittelpunkt der kakanischen Alchymie. Auch in bürokratischer Hinsicht. Die Ungarn hatten irgendwo in Siebenbürgen ihre eigenen Laboratorien, aber alle ärarisch finanzierten Alchymisten von Lemberg bis Triest, von Innsbruck bis Czernowitz unterstanden seit jeher der Verwaltung mit Sitz in der Moldaumetropole. Und seit diese zur neuen Reichshaupt- und Residenzstadt erklärt worden war und mit Kaiser Rudolf wieder ein Herrscher im Hradschin residierte, hatte das allerhöchste Interesse nicht nur am Stein der Weisen und der Goldmacherei, sondern an allen Aspekten der königlich genannten Kunst beachtlich zugenommen. Leider war offenkundig kein Minister und kein Sektionschef mit den Einzelheiten der Materie ausreichend vertraut, und darum konnte keiner dem Kaiser die gewünschten Auskünfte geben als eben Blumfeld. Der war am Anfang von der hohen Ehre ganz eingeschüchtert gewesen, aber je häufiger die Vorträge angefordert wurden, desto ruhiger und sicher wurde er, in der Sache sowieso, aber auch im protokollgerechten Umgang mit der allerhöchsten Person. So ein Kaiser ist auch nur ein Mensch, dachte Blumfeld schließlich, aber laut gesagt hätte er das selbstverständlich nie und nimmer. Die Apostolische Majestät schien jedenfalls rasch Gefallen gefunden zu haben an ihrem fachkundigen kleinen Beamten und ließ sich von dem stellvertretenden Unterabteilungsleiter wiederholt bei Besuchen in den Dachstuben und Kellern der Burg und sogar, wegen der Touristen freilich streng incognito, im Goldmachergässchen begleiten. Hinter Blumfelds Rücken nannten ihn daraufhin ein paar seiner Kollegen, die sich für witzig hielten, „Bratfisch“, nach dem ehemaligen Leibfiaker des damaligen Kronprinzen. Blumfeld wusste durch den geschwätzigen Bürodiener durchaus davon und nahm es mit amüsierter Befriedigung hin. Ein paar Mal verzehrte er sogar zum Gabelfrühstück demonstrativ gebratenen Hering. Aber weil dessen Geruch immer das Büro so anhaltend verpestete, ließ er diese selbstironische Geste bald wieder bleiben.

Blumfeld (5)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, nahm für den Weg zur Arbeit gerne den Zeppelin. Das schien ihm praktisch, etwas abenteuerlich und auf achtenswerte Weise modern. Unangenehm war nur das Ein- und Aussteigen, denn selbstverständlich konnte ein so großes Luftschiff in den engen und verwinkelten Gassen der altehrwürdigen Stadt nirgendwo landen. Man musste sich als angemeldeter Passagier also zur vorgegebenen Zeit an einer vorgegebenen Stelle auf einem Dach einfinden, eine Strickleiter wurde heruntergelassen, man kletterte sie hinauf und unter Mithilfe des Personals in die Kabine hinein. Das Aussteigen geschah dann ebenso, nur eben in umgekehrter Richtung. Das war im Grunde mit etwas Übung recht einfach, hatte aber einen Nachteil. Denn da er beim Klettern die Hände nicht frei hatte, musste Blumfeld den Ledergriff seiner Aktentasche mit den Zähnen halten. Das fand er unangenehm und etwas vulgär, denn leider war es nahezu unmöglich, dabei nicht zu sabbern und also den ledernen Griff nicht nass zu machen. Aber sobald Blumfeld dann sicher und komfortabel in der gemütlichen Kabine saß und den herrlichen Blick aus de großen Fenstern auf die Goldene Stadt genießen konnte ― bei Schlechtwetter flog der Zeppelin nicht ―, hatte er das kleine Ungemach bereits vergessen. Und wurde erst wieder daran erinnert, wenn er beim Aussteigen den Griff der Aktentasche erneut in den Mund nehmen musste. Schade fand Blumfeld aber vor allem, dass der Flug des Zeppelins oder vielmehr die Fahrt, wie man es richtig nannte, dass also die Fahrt immer nur so kurz war. Denn die Strecke zwischen dem Haus, in dem er wohne, und dem Gebäude, in dem er arbeitete, war nicht lang. Zu Fuß benötigte er rund eine halbe Stunde, mit dem Zeppelin waren es, Ein- und Ausstieg abgerechnet, nur wenige Minuten. Da Blumfeld seine Arbeitsstelle nicht wechseln mochte, hatte er schon erwogen, ans Ende der Stadt zu ziehen. Aber er scheute verständlicherweise den Aufwand, zumal es ihm ungewiss schien, ob es diese Luftschifffahrten überhaupt noch lange geben werde, denn die Königlich-böhmische privilegierte Zeppelin-Gesellschaft, so hatte es in der Zeitung gestanden, schrieb rote Zahlen. Zu hohe Kosten, zu wenig Fahrgäste. Blumfeld beließ es also vorderhand dabei, sich an jedem Arbeitstag mit schönem Wetter wenigstens ein paar Minuten höchst angenehm durch die Lüfte fahren zu lassen. Allerdings erwog er die Anschaffung eines Gurtes, um seine Aktentasche bei Bedarf auch auf dem Rücken tragen zu können.

Sonntag, 3. August 2025

Blumfeld (4)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, war dann doch etwas enttäuscht davon, wie wenig Aufmerksamkeit sein Verbrechen hatte erregen können. Nicht einmal Marmeladow, der die widerliche Vettel doch auch gehasst hatte, hatte auch nur ein Wort darüber verloren, dass sie erschlagen worden war. Nun, man wird schon sehen, sagte sich Blumelfeld und beschloss, es nicht bei dem einen Mord bewenden zu lassen, sondern sich Stockwerk für Stockwerk, vom fünften Stock bis zum letzten Kellerloch weiterzuarbeiten, bis all die verabscheuungswürdigen Missgeburten erschlagen waren, die anständigen Leuten das Leben schwer machten und sich an ihnen bereicherten. Das werde am Ende schon Eindruck machen, war Blumfeld überzeugt, und zum Stadtgespräch werden. Er freute sich schon darauf, eines im Kaffeehaus zu sitzen und zu den Zeitungslesern sagen zu können: Nun, meine Herren, Sie werden erstaunt sein, aber diese Morde, diese brutalen Exzesse mit ihren unschönen Details, das war alles ich. Aber er würde es selbstverständlich nicht wirklich sagen, er war ja nicht blöd. 

Blumfeld (3)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, hatte schon lange mit dem Anarchismus geliebäugelt und eines Tages beschloss er, endlich zur Tat zu schreiten. Er nahm sich nach einiger Überlegung vor, irgendeinen Erzherzog zu töten, um so ein Fanal für den Aufstand der Massen zu setzen, der das unterdrückerische System hinwegfegen und das Reich der Freiheit und Vernuft herbeiführen werde. Von solchen Fanalen hatte er schon oft in der Zeitung gelesen, und dass aus all den Mordversuchen und Mordtaten bisher kein Aufstand und kein Reich der Freiheit und Vernunft hervorgegangen war, focht Blumfeldt nicht an. Es käme auf einen weiteren Versuch an, sagte er sich, irgendwann werde es schon klappen. Nun stand Blumfeld freilich vor der unüberwindbaren Schwierigkeit, dass er nicht wusste, wie er sich eine Handfeuerwaffe oder gar eine Höllenmaschine hätte besorge sollen. Er hatte in dieser Hinsicht keinerlei Verbindungen und konnte sich auch nicht vorstellen, sie haben zu wollen. Aber er besaß selbstverständlich ein Küchenmesser. Deren mehrere sogar. Blumfeld wählt eines Abends das größte Messer aus, überlegte kurz, ob er es nachschärfen sollte, verwarf das aber, weil er befürchtete, sich selbst zu schneiden, wenn er das Mordgerät in seiner Manteltasche versteckte. Nachdem er alle seine Vorbereitungen getroffen hatte, schlich Blumfeld sodann von seiner Wohnung im sechsten Stock hinunter auf die Gasse. Den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen, machte er sich auf den Weg. Er wählte Gassen aus, durch die er sonst nahezu nie ging, das schien ihm umsichtig. So wanderte er eine ganze Weile durch die Stadt. Nur wenige andere Leute waren zu dieser späten stunde unterwegs. Blumfeld war nervös, aber entschlossen. Er müsse es tun. Er werde es tun. Doch nach fast zwei Stunden anhaltenden Fußmarsches war er dann doch bereit, sein Vorhaben aufzugeben. Kein Erzherzog war weit und breit zu sehen gewesen. Blumfeld hatte zwar zuletzt erwogen, zur Not stattdessen irgendeinen beliebigen Passanten niederzustechen, aber das wäre nicht dasselbe gewesen, und er verwarf es. Da er zufällig schon wieder ganz in der Nähe seiner Wohnung war, ging er nach Hause. Die Sache war für ihn damit freilich ganz und gar nicht erledigt, er war und blieb Anarchist und Anhänger der direkten Aktion. Auch fühlte er sich nach seinem anstrengenden Spaziergang wie ein alter, erprobter Mitstreiter der guten Sache. Aber man musste realitisch sein, und die Umstände waren eben ungünstig gewesen. In der Küche tat Blumfeld das Messer wieder dorthin, wo er es hergenommen hatte. Das kam ihm etwas seltsam vor, immerhin war das gefährliche Ding ein wichtiges Mittel zur Befreiuung der Menschheit gewesen. Gehörte so etwas nicht in ein Kriminalmuseum? Blumfeld war rechtschaffen müde und ging schlafen. Die Wochen, Monate, Jahre zogen ins Land, und irgendwann hatte Blumfeld vergessen, mit welchem Messer er damals durch die nächtlichen Gassen der Goldenen Stadt geschlichen war, und schließlich auch, warum überhaupt.

Samstag, 2. August 2025

Blumfeld (2)

Blumfeld, ein älterer Junggeselle, ritt letztens auf ein paar Prinzipien auf und davon, die er unlängst ganz unten in seinem Kleiderschrank gefunden hatte und mit denen er zunächst nichts anfangen zu können vermeinte, bis er nach einigem Herumprobieren zufällig entdeckte, dass sie sich, richtig eingesetzt, hervorragend dazu eigneten, all dem Gewöhnlichen und Gemeinen zu entfliehen und so auch den nur allzu oft langweiligen und nicht selten beschämenden Alltag einfach hinter sich zu lassen. Wie andere ihre Pegasusse bestieg also Blumfeld eines Nachmittags kurz entschlossen seine frisch gestriegelten Prinzipien, erhob sich mit ihnen mühelos in die Lüfte, schwebte zügig zum offenen Fenster hinaus, flog hinüber zum Altstädter Ring, überflog die Teynkirche, stieg und stieg immer weiter, drehte dann im wolkenlosen Blau des Himmels über der Goldenen Stadt noch ein paar Runden und verschwand schließlich auf Nimmerwiedersehen in Richtung Königliche Weingärten oder Nusle.

Freitag, 1. August 2025

Zweierlei Selbstbildnisse

Seine Selbstbildnisse sahen ihm gar nicht ähnlich. Hätte er sie nicht als solche bezeichnet, hätte man gar nicht gewusst, dass sie welche sein sollten. Mich störte das nicht, aber andere machten viel Aufhebens davon. Sie forderten Ähnlichkeit ein, als gäbe es irgendeine Verpflichtung dazu. Mir hingegen gefiel gerade,  dass er sich um die Erwartungen anderer nicht scherte, wenn er sich selbst malte. Das schien mir erfreulich selbstbewusst und frei. Zudem hielt ich seit langem dafür, dass die Gelungenheit eines Gemäldes nicht daran hängt, was es darstellt. Sofern es überhaupt etwas darstellt und falls Darstellung in diesem Zusammenhang überhaupt etwas bedeutet. Seine Selbstbildnisse jedenfalls konnte man mit Fug und Recht ungegenständlich nennen, abstrakt, wenn man so will, wobei freilich alles Gemalte abstrakt, weil mit dem Ungemalten, auf das es sich möglicherweise bezieht, nicht identisch ist. Wie auch immer. Was die zur Rede stehenden Selbstbildnisse betrifft, so ereigneten sich da Formen und Farben, die nur auf ihre eigene Stofflichkeit verwiesen und auf die Leibhaftigkeit der Erfahrung des Betrachters mit eben diesen Ereignissen, auf die Begenung also von Auge und Leinwand im Raum. Als bloße Wiedergabe von etwas, und sei es das Aussehen ihres Ereugers, waren sie bedenklich, aber als Entwürfe einer anderen Sichtbarkeit fand ich sie großartig. Und zugegebermaßen doch wohl auch gerade ihrer Bedenklichket wegen.
 
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Seine Selbstbildnisse sahen ihm gar nicht ähnlich. Zwar behaupteten immer alle, die Ähnlichkeit sei unverkennbar, aber ich sah das anders. Zugegeben, ich war ihm, als er noch gelebt hatte, nie persönlich begegnet, sondern kannte seun Aussehen nur von Photographien her (wie übrigens die meisten, die eine Ähnlichkeit behaupteten, ebenfalls). Aber so oder so, auf irgendetwas musste eine Behauptung der Ähnlichkeit oder Unähnlichket ja gestützt werden. Mir schien nun, dass entweder die Photographien logen, was mir durchaus wahrscheinlich vorgekommen wäre, oder aber eben, dass die Malerei doch erheblich von der gewöhnlichen Sichtbarkeit abwich und eine andere Sichtbarkeit erzeugte. Ich sah da jedenfalls keine Übereinstimmung. Oder ich hielt irgendwelche Übereinstimmungen für gänzlich unbedeutend, während mir die Abweichungen und Verschiedenheiten ganz entscheidend zu sein schienen. Meiner Überzeugung nach sah er also nicht so aus, wie ihn die Photographien zeigten, aber so, wie er sich gemalt hatte, und das war etwas ganz anderes. Oder umgekehrt, die Maerei hatte Unrecht und die Photographie Recht. Oder aber beides, Photographiertes und Gemaltes, hatte nur wenig mit seinem wirklichen Aussehen zu tun. Das hätte mir am besten gefallen.